Unter dem geschäftigen Treiben der Metropole Antwerpen liegt eine verborgene Welt, ein vergessenes Netzwerk aus Kanälen, Grachten und Festungsgräben, bekannt als “De Ruien”. Was heute ein unterirdisches System ist, waren im Mittelalter offene Wasserwege.
Ein Teil dieses unterirdischen Netzwerks wurde für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und kann im Rahmen von Führungen erkundet werden. Das konnten wir uns nicht entgehen lassen und stiegen in die Tiefe!

Die “Ruienstad”
Um das Jahr 1250 war Antwerpen bereits eine „Ruienstad“ (Kanalstadt). Es gab ein ausgedehntes Netz aus natürlichen und künstlich angelegten Wasserläufen – die Ruien, Vlieten (Fließe) und Vesten (Festungsgräben). Dieses System erfüllte zwei Funktionen. Erstens diente es der Verteidigung und bildete ein System von Wassergräben um die Stadtmauern. Zweitens schuf es Binnenhafenanlagen, die das Stadtzentrum direkt mit der lebenswichtigen Schelde verbanden.
Während des Goldenen Zeitalters von Antwerpen im 16. Jahrhundert, als die Stadt zur reichsten Handelsmetropole Europas aufstieg, waren die offenen Kanäle die Lebensadern der Stadt. Sie dienten dem Transport von Waren, die von der Schelde direkt in die Lagerhäuser und auf die Märkte der Stadt gebracht wurden. Dieser Warentransport befeuerte den Handel mit Tuchen, Gewürzen und anderen Gütern, der den legendären Reichtum Antwerpens begründete. Die einstige Präsenz zahlreicher Brücken, die das Kanalnetz überspannten, ist noch heute in Straßennamen wie „Sint-Katelijnevest“ oder in solchen, die das niederländische Wort “brugge” (Brücke) enthalten, ablesbar.

Ein Problem beginnt
Schon früh erkannten die Stadtväter die mit dem offenen Wassersystem verbundenen Probleme. Das Wasser verschmutzte immer mehr und floss nicht richtig ab. Sie entwickelten ein Spülsystem, das auf Schleusen (schuiven) basierte. Diese Schleusen wurden bei Flut geschlossen, um das Wasser im System zu stauen, und bei Ebbe geöffnet. Der so erzeugte starke Wasserstrom sollte Abfälle und Unrat aus den Kanälen in die Schelde spülen.
Diese Lösung war durch den Erfolg der Stadt jedoch zum Scheitern verurteilt. Antwerpens explosionsartiges Wachstum zu einer Metropole führte zu einer enormen Zunahme der Bevölkerungsdichte und der industriellen Aktivität. Gerbereien, Brauereien und unzählige Haushalte leiteten ihre Abfälle direkt in die Kanäle. Das Volumen der Verschmutzung überstieg schnell die Kapazität des gezeitenbasierten Spülsystems. Die Kanäle verwandelten sich in stinkende, offene Kloaken mit allerlei unbeliebten Bewohnern.

Die große Überwölbung
Der unerträgliche Geruch, der über der Stadt hing, und die ständige Gefahr von Seuchen wurden zu den treibenden Kräften für ein jahrhundertelanges Projekt: die vollständige Überwölbung der Kanäle.
Die Überwölbung der Ruien war ein langsamer, schrittweiser Prozess, der sich über mehr als 250 Jahre erstreckte. Er begann im 16. Jahrhundert, als die Stadtverwaltung Privatpersonen die Erlaubnis erteilte, die Kanalabschnitte auf ihrem Grundstück auf eigene Kosten zu überwölben und zu bebauen. Um diesen Prozess zu beschleunigen und die Bürger zu motivieren, führte die Stadt im 17. Jahrhundert sogar finanzielle Prämien für die Überwölbung ein.

Diese Vorgehensweise schuf ein einzigartiges architektonisches Erbe unter der Erde. Da jeder Eigentümer für seinen Abschnitt verantwortlich war, variierten die verwendeten Materialien und Baustile der Gewölbe erheblich. Das Ergebnis ist ein unterirdisches Mosaik aus über 200 verschiedenen Gewölbetypen.
Bis 1835 waren bereits 75 % des Netzwerks abgedeckt. Er fand seinen Abschluss im Jahr 1882 mit der Überwölbung des letzten offenen Kanals, des Brouwersvliet. Mit diesem Akt verschwanden die Ruien endgültig aus dem Stadtbild und gerieten für über ein Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit.
Eine unterirdische Welt – Das verborgene Leben der Ruien
Wobei so ganz vergessen waren die Kanäle nie.
Während des Ersten Weltkriegs sollen sie genutzt worden sein, um englische Waren in die von den Deutschen besetzte Stadt zu schmuggeln. Im Zweiten Weltkrieg dienten die Tunnel als Schutzräume und sogar als Orte für Feiern während der Bombenangriffe. Es gibt zudem unbestätigte Berichte, dass sie von der jüdischen Bevölkerung zur Flucht genutzt wurden, obwohl die deutschen Besatzungstruppen die Zugänge aktiv versiegelten und bewachten.
Die Wiederentdeckung
Nachdem sie über ein Jahrhundert lang fast vollständig in “Vergessenheit” geraten waren, kam es in den 1960er zur “Wiederentdeckung”. Die Wertschätzung von industriellem und infrastrukturellem Erbe weckte das Interesse der Menschen an den Ruien.

Die ersten Versuche Touren anzubieten scheiterte an dem unerträglichen Gestank in den Ruien. Die Stadt begann die Kanäle für eine Wiedereröffnung vorzubereiten. Man nahm moderne Anpassung vor, die die historische Hülle bewahrte, während ihre Funktion grundlegend verändert wurde. Das Hauptproblem der Ruien war ihre Funktion als aktives Abwassersystem. Die Lösung bestand darin, moderne geschlossene Abwasserrohre innerhalb der historischen Tunnel zu installieren.

Im Jahr 2005 wurden Teile des Systems offiziell für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieser Schritt verwandelte die verborgenen Kanäle in eine Touristenattraktion.
Wir steigen in die Tunnel
Der Eingang zu den unterirdischen Tunneln ist nur mit einer Führung möglich. Wir hatten vorab die schnell vergegeben Tickets gebucht und warteten am Eingang auf den Tourbeginn.

Wichtig! Start- und Endpunkt der Tour sind unterschiedlich. Man kann keine großen Gegenstände mitnehmen. Gleich zum Beginn bekamen wir jeder einen kleinen Rucksack für unsere Schuhe, Gummistiefel, einen Helm und einen dünnen Overall. Also hieß es umziehen! Im Anschluß händigte man uns noch ein Tablet aus, dass mehrsprachig an bestimmten Punkten für die historischen Informationen sorgte.

Dann stiegen wir eine Treppe hinab und standen im ehemaligen Abwasserkanal. Die historischen Tunnel selbst transportieren kein Rohabwasser mehr. Wir wateten durch Regenwasserabfluss von den Straßen und häusliches Grauwasser aus Duschen und Spülmaschinen. Dieses Wasser ist weitaus weniger gesundheitsgefährdend und erzeugt einen eher erträglichen feuchten Geruch anstelle eines abstoßenden Gestanks. Die Tour ist etwa 1,5 Kilometern lang und führt über unebenen, oft schlammigen und rutschigen Untergrund. Alles liegt im Halbdunkelheit, die nur von strategisch platzierter Beleuchtung und unseren Taschenlampen durchbrochen wird.

Die Dunkelheit und die dort herrschenden Umweltbedingungen haben ein eigenes Ökosystem geschaffen. Es ist die Heimat einer beträchtlichen Rattenpopulation und das ein oder andere Tier kreuzte auch unseren Weg. Hier leben auch seltener Arten von schwarzen und braunen Spinnen, die man uns zeigte. Ein besonders kurioses biologisches Merkmal ist ein zarter, weißer Pilz, der ausschließlich auf den Exkrementen von Ratten wächst. Alles in allem eine Welt, vor der man keine Angst oder Ekel verspüren sollte, wenn man in den Untergrund Antwerpens abtaucht.

Die Tour dauert etwa 90 Minuten und wird natürlich nicht nur mit dem Tablet, sondern auch von einem Guide begleitet. Dieser hat uns gut um die etwas tieferen Wasserstellen herum geführt und auf die Lebewesen in der Dunkelheit hingewiesen.
Wir haben schon so einige Touren unter Städten unternommen. Jede hat etwas besonderes und in Antwerpen war es genauso. Durch alte Abwassergräben zu laufen, die heute noch genutzt werden ist schon etwas anderes. Uns hat es gefallen.
Besucherinformationen
Adresse
Ruihuis, Suikerrui 21,
2000 Antwerpen
Anfahrtsmöglichkeiten
Mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln
Straßenbahnlinien 3, 4, 5, 9, 15 bis zur Haltestelle Groenplaats
Buslinien 2, 32, 22, 180, 181, 182 und 183 bis zur Haltestelle Groenplaats
Vom Groenplaats aus sind es 4 Minuten zu Fuß bis De Ruien.
Öffnungszeiten
Dienstag- Sonntag: 11 Uhr, 13 Uhr und 15 Uhr
Eintrittspreis
Erwachsene: 19,- €
Barrierefreiheit
Der Besuch der Ruien ist ein anspruchsvoller Spaziergang von etwa 1,5 km über unebenen, oft schlammigen Boden mit Pfützen. Es ist nicht möglich, auf dem Weg zu sitzen oder sich irgendwo anzulehnen. Sie müssen in der Lage sein, dem Tempo der Gruppe zu folgen.
Aufgrund der besonderen Oberfläche ist der Weg für Rollstühle und Rollatoren nicht geeignet. Personen mit eingeschränktem Sehvermögen und/oder eingeschränkter Mobilität können aus Sicherheitsgründen ebenfalls nicht teilnehmen.
Sprache
Auf dem Tablet sind Niederländisch, Englisch, Französisch oder Deutsch (Untertitel) verfügbar.
Häufig gestellte Fragen
Wie hoch ist Anzahl der Teilnehmer pro Tour?
Es gibt maximal 16 Plätze pro Zeitfenster.
Wie lange dauert des Besuchs?
Die Tour dauert etwa 90 Minuten.
Dürfen Kinder auch in die Tunnel?
Jeder ab 10 Jahren , der Lust auf eine anstrengende und manchmal schlammige Wanderung hat.
Wo endet die Tour?
Stadsmagazijn, Keistraat 5, 2000 Antwerpen
Wird die Tour in verschiedenen Sprachen angeboten?
Auf dem Tablet sind Niederländisch, Englisch, Französisch oder Deutsch (Untertitel) verfügbar.
Welche Kleidung sollte ich tragen?
Es werden Gummistiefel in den Größen 35-50 zur Verfügung gestellt. Bitte Socken mitbringen, damit sie diese anziehen können! Wer eigene Stiefel mitbringt muss darauf achten, dass diese bis knapp unter das Knie reichen. Kürzere Stiefel sind nicht geeignet, weil das Wasser manchmal etwas höher steht.
Die eigene Kleidung sollte so gewählt werden, dass man bequem einen Schutzanzug darüber ziehen kann. Ohne Schutzanzug ist das Betreten der Kanalanlage nicht möglich.
In den Ruien herrscht eine konstante Temperatur zwischen 15°C und 18°C. Ein zusätzlicher Pullover ist also definitiv nicht nötig!
Kann ich meine Sachen irgendwo lagern?
Nein. Sie müssen also alles mit auf die Wanderung nehmen. Man erhält einen kleinen Rucksack , in dem Sie Ihre persönlichen Sachen und Schuhe aufbewahren können. Dieser wird nach der Tour wieder abgegeben.
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