Die Abenddämmerung zieht langsam über Münster und wir laufen schon aufgeregt vor der Lambertikirche hin und her. Gegen 20:30 Uhr beginnt die Türmerin mit ihrem Aufstieg in den Turm der Kirche und wir dürfen sie begleiten.
Mit einem fröhliche „Seid ihr mein Blind Date?“ begrüßt uns Martje Saljé vor der Holztür, die sie fast täglich öffnet, um ihren Dienst zu beginnen.
Uns zeigt ein kleines Symbol an der Tür, dass hier schon immer der Eingang für den Türmer von Münster war. Die Sandsteinfigur des Nachtwächters ist 2006 hier befestigt worden.
Auf dem Weg zur Türmerstube
Damit Martje auch pünktlich ihren Dienst beginnen kann, steigen wir erst einmal die 300 Stufen bis in die Türmerstube hoch. Die Treppe ist sehr eng und dreht sich spiralförmig nach oben. Große Taschen kann man hier nicht hoch tragen und Platzangst darf man auch nicht haben.
Etwa auf halber Höhe ein kurzer Stopp zum Luft holen. Wir stehen in einem Raum in dem eine riesige Fahnenstange liegt. Diese wurde für den Katholikentag angeschafft. An den Wänden entdecken wir Zeichnungen der Kirche. Auf der einen Zeichnung erkennt man, wie schief der ursprüngliche Turm, der 1881 abgerissen wurde, stand. Der heutige Turm wurde 1898 fertiggestellt und ist über 90 Meter hoch.
Weiter geht der Weg über die schmale Treppe zum nächsten Absatz. Von hier kann man schon toll über Münster gucken und Martje macht hier auch ihren ersten Check, ob alles soweit in Ordnung ist. Hier hängt auch eine ganz besondere Glocke, die nicht wie die normalen Kirchenglocken genutzt wird – und auch nicht der Kirche gehört, sondern der Stadt. Die sogenannte Ratsglocke wird bei der Wahl des Oberbürgermeisters geschlagen (Fachwort: gebeiert). Martje erzählt, dass sie den riesigen und schweren Klöppel schon einmal bedienen musste. Es muss nicht einfach gewesen sein, den richtigen Schwung zu entwickeln, damit die Glocke auch gut klingt.
Von hier aus sieht am auch die eisernen Körbe an der Lambertikirche sehr gut. In diese 3 Körbe wurden die Leichen der sogenannten Anführer der Täuferbewegung gesteckt. Wobei, wenn man es genau nimmt, einer gar kein Anführer war, sondern bloß der Bruder von Heinrich Krechting (dem Anführer, der entfliehen konnte und bis ins hohe Alter täuferisch lebte). Sie sollten ein abschreckendes Beispiel für die Bevölkerung darstellen.
Lange halten wir uns hier nicht auf, denn in der Türmerstube muss die Türmerin von Münster sich pünktlich telefonisch bei der Feuerwehr von Münster melden, damit diese wissen, dass sie auf dem Posten ist.
In der Türmerstube der Lambertikirche
Wir kommen in einer kleinen und sehr gemütlichen Türmerstube an.
Hier ist Martjes Arbeitsplatz von Mittwoch bis Montag von 20.45 bis 24:15 Uhr. Der Dienstag ist ihr freier Tag. Warum es genau der Dienstag ist, lässt sich heute nicht mehr genau nachvollziehen – griffen dienstags nie Feinde an oder brannte es dienstags weniger als an anderen Tag? Es gibt nur Vermutungen.
Es gibt einen Schreibtisch mit Telefon und Tablet, eine gemütliche Sitzecke, viele Bücher und Instrumente. Für die kalten Tage steht ein Radiator in einer Ecke. Es gibt aber kein fließendes Wasser und keine öffentliche Toilette – daran muss man vor dem Turmaufstieg denken.
Wir werden Martje in den nächsten Stunden bei ihrer Arbeit beobachten und viele Fragen stellen. Aber bevor es los geht, steigen wir eine Holzleiter hinauf und stehen fast am höchsten Punkt des Kirchturms. Nur noch eine Stahltreppe führt zur Spitze – dort lebt der Turmfalke.
Während wir den Sonnenuntergang genießen, beginnt Martjes Dienst als Türmerin von Münster. Sie holt ihr Horn und stellt sich pünktlich um 21 Uhr in Position. Kaum haben die Glocken fertig geläutet, tutet sie 3×3 lange Töne gen Süden, wechselt nach Westen und tutet erneut 3×3 Töne und nach Norden wiederholt sie das ganze. Nach jedem Signal winkt sie fröhlich den Menschen vor der Kirche zu.
Dann hat sie erst einmal etwas Pause und wir haben Zeit unsere Fragen loszuwerden.
Beruf Türmer
Der Türmer oder auch Turmwächter/Turmbläser ist ein Beruf, den es schon seit etwa dem 14. Jahrhundert gibt. Seine Aufgabe bestand darin, vom höchsten Turm der Stadt vor Gefahren zu warnen. Dazu zählten nicht nur herannahende Feinde, sondern auch Brände.
Zur Warnung der Bewohner der Stadt verwendeten die Türmer unterschiedliche Hilfsmittel: Signalhorn, Flaggen, Glocken, Lampen (bei Dunkelheit)…
Meistens lebte der Türmer in seinem Turm, dann gehörte oft auch zu seiner Aufgabe das Schlagen einer Glocke zur Zeitangabe.
Eine seit der Reformationszeit durchgeführte rein protestantische Tradition ist das Choralblasen vom Turm. Dieses stellt eine Art Predigt dar, bei der die Menschen auf der Straße oft mitsangen.
Noch heute wird der Beruf des Türmers in einigen Städten ausgeübt. Neben der Türmerin von Münster gibt es zum Beispiel eine Türmerin in Bad Wimpfen, eine Türmerfamilie in Annaberg-Buchholz, einen Türmer in Nördlingen, auf dem Hamburger Michel, in Göttingen, in Bautzen, in Lübben und in Helmstedt.
Wir haben in Krakau den Türmer auf der Marienkirche schon sein Trompetensignal blasen gehört. Auf nahezu allen Türmen sind die Gepflogenheiten (Instrument, rufen, Präsenzpflicht…) und Arbeitsverhältnisse (ehrenamtlich, städtisch, kirchlich, der Feuerwehr unterstellt…) völlig unterschiedlich.
Türmerin von Münster
Während wir so über die Geschichte des Türmerwesens reden, ist es Zeit für das nächste Tuten. Immer zur halben Stunde werden in drei Himmelsrichtungen zwei Signaltöne getutet. Dieses Mal tutet Martje von dem kleinen schmalen Rundgang, der einmal rund um die Türmerstube führt.
Zurück in der Türmerstube wollen wir nun alles über Martje und ihre Berufswahl erfahren.
Martje hat Geschichte und Musik studiert. Sie spielt die verschiedensten Instrumente, ein Teil davon hängt in der Türmerstube.
Die Stelle als Türmerin wurde von der Stadt Münster offiziell und bundesweit ausgeschrieben und es gab nicht wenige Bewerber auf diese außergewöhnliche Stelle. Sie konnte sich durchsetzten und trat zum 1.1.2014 ihre Traumstelle in Münster an.
Auf meine Frage, ob sie vorher denn üben konnte, aus dem Kupferhorn überhaupt einen Ton herauszubekommen, lacht sie und verneint. Es ist nur dem Türmer/der Türmerin gestattet das Horn zu tuten. Es ist nur gestattet zur vollen und halben Stunde zu tuten und bei Gefahr- oder Brandsichtung. Üben war vorher nicht möglich und glücklicherweise hat das Tuten gleich beim ersten Versuch funktioniert.
Zu jeder vollen Stunde tutet die Türmerin von Münster ein bestimmtes Signal, das vorgeschrieben ist. Es ist auch vorgeschrieben, dass das Signal nur in drei Himmelsrichtungen abgegeben wird. Warum man nicht in Richtung Osten tutet ist nicht überliefert, es gibt nur viele Spekulationen. Also werden um 21 Uhr 3×3 Signaltöne in 3 Himmelsrichtungen getutet – das macht 9 Töne (passend zu Uhrzeit). Um 22 Uhr tönen 2×3 und 1×4 Töne, um 23 Uhr 3×3 und 1×2 Töne und um 24 Uhr 4×3 Signaltöne vom Turm. Verzählt hat Martje sich bisher nur einmal und das haben die Stadtbewohner auch gleich bemerkt und sie darauf angesprochen. Verpasst hat sie ihren Einsatz noch nie, immer 2 Minuten vor ihrem Auftritt quakt der Wecker wie eine Ente. (Danke dafür, wir haben am nächsten Tag bei jeder Ente an dich gedacht!)
Überhaupt sind die Münsteraner sehr aufmerksam. Ist Martje mal krank oder wird während ihres Urlaubs vertreten, merken sie dieses anhand des Tutens. Ihre Vertretung muss anscheinend das Horn anders klingen lassen.
Die Türmerin von Münster hat aber nicht nur den Job die Zeitsignale zu tuten, sie muss auch auf Gefahren achten. Ok, Feinde in der heutigen Zeit zu erkennen, fällt sicherlich schwer. Aber auf mögliche Brände zu achten, ist auch heute noch sehr wichtig. Dafür gibt es einen direkten Draht zur Einsatzleitung der Feuerwehr von Münster. Im Laufe ihrer Dienstzeit konnte Martje die Feuerwehrleute schon auf Brände aufmerksam machen und sogar als „Turmlotsin“ den Weg weisen.
Zwischen dem Signaltuten beschäftigt sich Martje mit ihrem eigenen Blog (www.tuermerinvonmuenster.de) und dem Lesen von Büchern, die zum Thema Türmer/Türmerin und Münster/Münsterland passen. Also wer einen Geheimtipp hat, Martje freut sich über jeden Hinweis.
Martje hat als Türmerin ihren Traumjob gefunden. Sie liebt es auf ihren Turm zu steigen, hier entschleunigt sich das sonst so hektische Leben, hier konzentriert sie sich auf das Wesentliche und genießt den Blick über ihre Wahlheimat Münster. Ich kann sie gut verstehen.
Die Zeit vergeht für uns in der Turmstube wie im Flug. Wir haben so viel erfahren und sind in eine spannende Welt eingetaucht.
Wir steigen vor Dienstende die enge Wendeltreppe herunter und stellen uns auf den Prinzipalmarkt. Nun wollen wir das Tuten des Horns doch auch noch von der Straße hören. Hier klingt es ganz dumpf, fast wie ein Nebelhorn. Es ist viel leiser, als ich es gedacht habe.
Als Martje mit ihrer Taschenlampe den wartenden Zuhören winkt, winke ich zurück. Danke für diesen wunderschönen Abend!
Offenlegung: Den Besuch bei der Türmerin von Münster durften wir im Rahmen einer Pressereise erleben. Vielen Dank!
Rainer Ostendorf
Ich wohne in Osnabrück und kenne Münster ganz gut. Es lohnt sich, diese Friedensstadt einmal zu besuchen. Die Türmerin kannte ich noch nicht. Danke für den guten Artikel und schöne Grüsse aus Osnabrück
Susanne Jungbluth
Vielen Dank! Ja Münster lohnt sich wirklich!
In Osnabrück war ich bisher immer nur zu Veranstaltungen, bei denen es um das Them Kindheit in Bewegung ging. Da sieht man leider fast nur die Turnhallen und Seminarräume der Uni. Aber ich habe es fest eingeplant, die Stadt mal in Ruhe zu entdecken.
Nicole
Hallo Susanne!
Ich kann Michelle nur zustimmen. Wirklich sehr spannend. Auch ich wusste gar nicht, dass es sowas heut noch gibt. Es war bestimmt super interessant sich das einmal anzusehen.
Liebe Grüße,
Nicole
Kathi
Wow, ich hatte keine Ahnung, dass es noch so etwas wie einen Türmer gibt. Und ich wusste auch nicht, wie genau deren Job aussieht. Den besten Auablick auf die Stadt haben Sie auf jeden Fall.
Toller Bericht. Danke dir für den Einblick.
Viele liebe Grüße
Kathi
Auszeitgeniesser
Münster vermarktet sich wirklich top mit seiner Türmerin.
Eine schöne Idee, die perfekt zum Stadtmarketing passt.
Und wäre zusätzlich passend als Location für Ausflugsziele fürs Wochenende.
Die Blogparade läuft noch bis Ende September. Was meinst du?
Viele Grüße, Katja
Michelle | The Road Most Traveled
Spannender Beitrag! Wusste gar nicht, dass es sowas heutzutage noch gibt.
Für mich wäre das nichts, aber es ist definitiv ein interessanter Einblick.
Vielen Dank dafür!
Michelle von The Road Most Traveled