Charlottenburg, Charlottengrad … ich durfte an einer Führung teilnehmen, die sich mit dem Thema Charlottengrad in den 20er Jahren beschäftigt und mir eine vollkommen unbekannte „Szene“ in Berlin vorstellte.
Eine Zeitreise zurück in die Weimarer Zeit
Reisen wir zurück in das Berlin der Weimarer Republik in die 1920er Jahre. Das Leben in Westeuropa war zu dieser Zeit nicht besonders einfach. Deutschland hatte den Krieg verloren und litt unter Kriegsschulden und revolutionären Unruhen. Die Inflation machte das Leben in Deutschland aber auch billiger, als in vielen anderen Ländern.
In Russland tobte nach einer Revolution 1917 ein grausamer Bürgerkrieg. Wer es sich finanziell erlauben konnte oder Gegner der Bolschewiki war, versuchten dem Bürgerkrieg zu entkommen und floh. So kamen viele Menschen aus Russland auch nach Berlin, es wird heute von etwa 360000 Menschen gesprochen. Sie gehörten ganz verschiedenen politischen, sozialen, religiösen, ethnischen und kulturellen Gruppen an und die meisten hofften auf eine schnelle Rückkehr in ihre Heimat.
In Berlin zog es viele der Flüchtlinge in den Bezirk Charlottenburg. Es gab eine zeitlang zahlreiche russische Lokale, Kinos, Theater, Buchhandlungen, Geschäfte und Verlage im Bezirk, dass sich die Bezeichnung „Charlottengrad“ einbürgerte.
„Russisches Berlin – Charlottengrad in den 20er Jahren. Künstler und Literaten, Exilanten und Geheimdienstler“
Die Tour von art:berlin (cpb culturepartner berlin GmbH) wurde von Bernd Gutbertlet geleitet, einem Historiker, der es versteht, die Geschichte nicht trocken und langweilig wirken zu lassen, sondern spannend und interessant erzählt.
Start der Tour ist die russisch-orthodoxe Kirche am Hohenzollerndamm. Die Christi-Auferstehungs-Kathedrale ist zwar wesentlich später, nämlich 1936-38 erbaut worden, bietet sich aber als Start in die Geschichte des russischen Berlins durchaus an.
Von dort aus ging es mit der U-Bahn zur Spichernstraße, von dort aus zog es uns dann kreuz und quer durch die Straßen von Wilmersdorf und Charlottenburg. Dabei erfährt man so manches interessantes.
Wusstet Ihr, dass
- es zeitweise bis zu 200 russische Verlage, Buchhandlungen und Zeitungen in Berlin gab? Viele russische Bücher sind von ihren Autoren in Berlin geschrieben worden, übersetzt und oft weltweit verkauft worden.
- es Plätze in Berlin gab, an denen zahlreiche russische Cafés, Restaurants und Pensionen existierten?
- adlige und reiche russische Damen im Berlin der 20er Jahre viel Geld beim Shoppen ausgaben?
- die russische Kultur in Charlottengrad immer mehr Einzug hielt. Es entstanden zum Beispiel Kabaretts, Theater- und Musikgruppen.
- der über den Kudamm fahrenden Bus von den Berlinern den Namen „Russenschaukel“ bekam und auf dem Weg zum Nollendorfplatz rief der Schaffner die Haltestelle “Russland” aus.
- der Kurfürstendamm zu dieser Zeit fast ausschließlich ein Wohnboulevard war. In den zum Teil sehr großen Etagenwohnungen (300-600 qm) zogen auch viele russische Familien ein. Erst ab etwa 1924 entwickelte sich das Shoppingerlebnis auf dem Ku-damm.
- in der Nähe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche das „Café Größenwahn“ (Café des Westens) lag, in dem viele Russen verkehrten und sich dort das literarische Zentrum Berlins befand?
Russische Künstler in Charlottengrad
Um einige russische Künstler geht es während der Führung. Ilja Ehrenburg ist einer von den Künstlern, die in der russischen Gemeinde in Berlin eine wichtige Rolle gespielt hat. Der Autor und Journalist veröffentlichte rund hundert Bücher, einige davon entstanden auch in seiner Zeit in Berlin. Er veröffentlichte auch Beiträge in der russischsprachigen Berliner Zeitschrift Neues Russisches Buch und war für viele Neuankömmlinge in der Stadt die erste Anlaufadresse bei Fragen rund um das Leben in der Stadt.
Eine weitere Künstlerin ist Marina Zwetajewa, eine der bedeutendsten russischen Dichterinnen des 20.Jahrhunderts. Sie kam 1922 nach Berlin, blieb allerdings nicht sehr lange in der Stadt. Als sie in der Stadt ankam, war sie in der russischen Gemeinde bereits bekannt. Ehrenburg hatte einige ihrer Werke an Verlage weitergeleitet und diese waren bereits veröffentlicht, als sie in der Stadt eintraf. Sie veröffentlichte die Gedichtsammlungen Trennung (разлука), Gedichte an Blok (Стихи к Блоку) und Das Mädchen des Zaren in Charlottengrad.
Sehr viel habe ich auch über Boris Pasternak, dem Autor von Dr.Schiwago, erfahren. Die Familie Pasternak kam 1921 nach Berlin und war sehr aktiv in der russischen Gemeinde. Boris besuchte seine Eltern in Berlin, konnte sich aber für die Stadt nicht begeistern.
In Berlin gründete sich 1928 der „Club der russischen Dichter“. In der Wohnung von Raisa Noevna Blokh und ihrem Ehemann Michail Gorlin war der Treffpunkt der russischen Künstlerszene. Hier fanden zahlreiche Veranstaltungen statt, die bis zum Februar 1933 von dem Paar organisiert wurden. Danach emigrierten das jüdische Paar nach Paris.
Diese und noch viel mehr interessante Geschichten erfährt man auf dem dreistündigen Stadtrundgang, der an der Gedächtniskirche endet.
Mir hat der Rundgang wirklich sehr gut gefallen. Ich habe Charlottenburg von einem ganz anderen Blickwinkel entdeckt und es Lust auf weitere Entdeckungstouren gemacht. Informationen zur Tour findet man auf der Webseite des Anbieters.
Offenlegung: Die Teilnahme an der Tour war für mich kostenfrei. Vielen Dank! Der Bericht zur tour ist unabhängig zur Teilnahme entstanden und entspricht ausschließlich meinen Eindrücken.
Interessante Bücher von Bernd Gutberlet
Schreibe einen Kommentar